Autor        

 

Daniel Lettgen

»... und hat zu retten keine Kraft.«

Die Melancholie der Musik

Schott Music, 2010, 590 Seiten
ISBN 978-3-7957-0698-2 

 

»I am never merry when I hear sweet music.« (The Merchant of Venice) – Gar nicht selten wird behauptet, Musik habe eine melancholische Qualität. Freilich stehen solche Aussagen quer zur Tradition, die dieser sanguinischen Kunst die Kraft zu Tröstung, Heilung und Erlösung zuspricht. Die harmonia bekämpft als paradigmatische Ordnungsinstanz die reflexive Unordnung im Gemüt des Melancholikers. Doch im bipolaren Wechselspiel können sich Hoffnungen und Enttäuschungen bis zu manisch-depressiven Symptomen aufschaukeln.            

       

Anhand der Melancholie als hermeneutischem Modell untersucht das Buch die Dialektik von Musikutopie und Musikskepsis in einem weiten kulturgeschichtlichen Rahmen sowie speziell im Diskurs der deutschen romantischen Musikästhetik (von Wackenroder bis Adorno) und in der Symphonik des 19. Jahrhunderts (Beethovens »Neunte« und ihre ›Zurücknahme‹ durch Brahms).            

    

Hat die Musik am Ende »zu retten keine Kraft« (Wackenroder) oder behauptet sie sich gegen alle kritische Dekonstruktion als Prinzip Hoffnung?
 

Aus dem Kapitel über die Heilige Caecilia

 

Immer schon hatte die Musik einen utopischen Anspruch. Seit Pythagoras’ Zeiten gilt die harmonia als die paradigmatische Ordnungsinstanz. Bis heute hält sich der Traum von der versöhnenden Kraft der Musik, die alles Widerstreitende befriedet, alles Heterogene zum Kosmos zusammenfügt. Aber kann sie ihren Ambitionen gerecht werden? Adorno benennt ihre tragische Fallhöhe: »Wesentlich« sei es »der Musik, sich zu überfordern.« Aus hochfliegenden Hoffnungen werden bei Nicht-Erfüllung notwendigerweise Enttäuschungen.

 

 

Raffaels Heilige Caecilia zeigt die Musik in dieser prekären Stellung zwischen den Extremen: zwischen hohem Ideal und materieller Wirklichkeit. Caecilia steht inmitten einer Gruppe von vier weiteren Heiligen. Das Arrangement entspricht dem Bildtypus der Sacra Conversazione, jedoch mit dem Unterschied, dass Caecilia hier die Stelle der Gottesmutter einnimmt, die sonst im Zentrum solcher Gemälde steht und vor deren Thron sich verschiedene Heilige zu einer schweigenden Unterhaltung versammeln. Bestandteil dieses Darstellungsmodells ist üblicherweise ein Engelskonzert zu Füßen der Madonna, das allein die mystische Stille bricht. Zu Caecilias Füßen jedoch liegt eine Anzahl Musikinstrumente, die offenbar als defizient, zum Teil als defekt, jedenfalls als unbrauchbar verworfen sind. Von ihnen umgeben blickt Caecilia zum Himmel, wo ihr die Vision oder Audition einiger singender Engel widerfährt. Sie selbst hält ein Instrument noch lose und umgekehrt in der Hand, ihre Portativorgel, von der sich einige Pfeifen bereits gelöst haben und im Begriff sind, zu den anderen Instrumenten zu Boden zu sinken. 

 

 

Man ist versucht, Raffaels Caecilia in Analogie zu der auf dasselbe Jahr 1514 datierten Melencolia I Dürers zu deuten und auch hier einen Moment der Unschlüssigkeit wahrzunehmen, der die Heilige als eine Verkörperung musikalischer Melancholie erscheinen lässt. Sie hört im Geiste das, was Musik ihrer Vorstellung nach sein sollte, ist aber umgeben von dem, was Musik tatsächlich ist. Situiert zwischen himmlisch-vollkommener und irdisch-unvollkommener Musik, zwischen der Imagination reinsten stimmlichen Wohlklangs und einem Haufen Instrumentenschrott scheint Caecilia über Sinn oder Sinnlosigkeit ihrer musikalischen Betätigung zu reflektieren. Auch darin gleichen sich die Bilder: Beide Darstellungen zeigen eine Situation der Sinnkrise. BeideTitelfiguren, die christliche Symbolgestalt der Musik und die Personifizierung der kunstfertigen Geometrie, halten ihr Arbeitsgerät, Orgel und Zirkel, noch in der Hand. Sie benutzen es aber nicht mehr, weil sie abgelenkt sind durch das, was sie in der Ferne schauen beziehungsweise hören. Caecilia und Melencolia haben die gleiche metaphysische Offenheit des Blicks (beziehungsweise des Ohrs), und beide Bildfiguren lenken mit ihrem Blick den Blick des Bildbetrachters und ziehen diesen in ihre Entscheidungsproblematik hinein.

 

Artikel für            


Das Wagner-Lexikon

                                    

Herausgegeben von Daniel Brandenburg, Rainer Franke und Anno Mungen

Laaber 2012


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Kapitel in


Musik

Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte


Herausgegeben von Tobias Bleek und Ulrich Mosch

Bärenreiter/Henschel 2018

 

  • Musik als Utopie. Beethovens 9. Sinfonie
  • »Durch Leiden zur Freude«. Mythos Beethoven
  • »Unendliche Sehnsucht«. Warum ist die Musik »die romantischste aller Künste«?

 


Artikel für


Opernlexikon


Herausgegeben von Silke Leopold

Bäreneiter, in Vorbereitung


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Wesentlich ist es

der Musik,
sich zu überfordern.
Sie errettet die Utopie
in ihrem Niemandsland
.
 

Theodor W. Adorno

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



   

 





 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 
 

Ausdruck der
mit dem Sehnen,
mit der Ahnung des
Göttlichen ringenden
menschlichen Ohnmacht.
 

Franz Liszt
zu Raffaels
»Caecilia«
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Landschaft
des Denkens, dem die Welt fragwürdig geworden ist.

 

Hartmut Böhme
zu Dürers
»Melencolia I«